Eine Situation, wie sie in Bauverträgen oft vorkommt: Nach Vertragsschluss fällt auf, dass eine Position im Leistungsverzeichnis (LV) falsch ausgeschrieben war. Um ein mangelfreies Werk herstellen zu können, wird diese vom Auftraggeber nachträglich geändert. Der Auftragnehmer will hierfür Mehrvergütung nach § 2 Abs. 5 VOB/B. Der Auftraggeber ist skeptisch: Hätte der Auftragnehmer nicht vor Zuschlag auf die mangelhafte LV-Position hinweisen müssen? Steht ihm jetzt überhaupt eine Nachtragsvergütung zu?
Hinweispflichten des Auftragnehmers
Immer wieder wird in solchen Fällen auf die Hinweispflicht des Auftragnehmers verwiesen. Ohne entsprechenden Hinweis mache sich der Auftragnehmer das LV zu eigen. Er könne aus später entdeckten Fehlern keine Forderungen ableiten – so lautet häufig die Erklärung. Die aktuelle Rechtsprechung zu dieser Thematik ist allerdings weitaus differenzierter. Ein Beispiel ist das Urteil des OLG Naumburg vom 18.08.2017 – 7 U 17/17, gegen das eine Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH zurückgenommen wurde (BGH, Beschluss vom 21.02.2018 – VII ZR 240/17).
Die Richter kommen darin zu dem Ergebnis, dass der Bieter im Vergabeverfahren keine generelle Hinweis- und Aufklärungspflicht hat. Er muss sich nur dann beim Auftraggeber melden, wenn die Vergabeunterlagen einen ganz klar erkennbaren Fehler enthalten. Gleiches gilt, wenn er positiv erkennt, dass die Ausschreibungsunterlagen wegen einem Mangels ungeeignet sind.
Anders formuliert: Liegt kein offenkundiger Fehler vor bzw. kann der Auftraggeber nicht nachweisen, dass der Bieter einen gravierenden Fehler erkannt hat, bleibt das Risiko bei der Vergabestelle. Muss aufgrund eines LV-Fehlers eine Leistungsänderung angeordnet werden, erhält der Auftragnehmer hierfür eine höhere Vergütung.
Unklarheiten im Leistungsverzeichnis
Die Entscheidung des OLG Naumburg ist kein Einzelfall. Ähnlich hat zum Beispiel auch das OLG München schon am 04.04.2013 entschieden (Verg 4/13). Hier enthielten die Vergabeunterlagen zwar den Hinweis, der Bieter müsse auf Unklarheiten im LV hinweisen. Das reichte dem Gericht aber nicht:
„Im vorvertraglichen Schuldverhältnis bestehen gegenseitige Rücksichtnahmepflichten, um den Vertragspartner vor Schäden zu bewahren. Es ist schon fraglich, in welchem Ausmaß bei öffentlichen Ausschreibungen dem Bieter über die Rügepflicht hinaus derartige Hinweispflichten obliegen sollen. Diese Frage kann hier aber dahinstehen. Denn jedenfalls über die sich aus den Bewerbungsbedingungen ergebende Pflicht, auf Unklarheiten hinzuweisen, kann diese Pflicht nicht hinausgehen. Sonst würde das Gefüge der widerstreitenden Interessen zwischen zwei Vertragspartnern zu sehr aus den Angeln gehoben.“
Das OLG München kommt schließlich sogar zu dem Ergebnis, dass der „findige“ Bieter von ihm erkannte Fehler in einem gewissen Umfang zu seinen Gunsten ausnutzen darf. So sei es erlaubt, dass er bei einzelnen Positionen zum Beispiel besonders niedrige Einheitspreise anbietet, weil er einen zu hohen Mengenansatz erkannt hat.
Lücken im Leistungsverzeichnis
In einem späteren Urteil betont das OLG München allerdings auch die Aufklärungspflichten des Bieters bei einem unvollständigen LV (OLG München, Urteil vom 27.04.2016 – 28 U 4738/13 Bau; BGH, Beschluss vom 20.04.2017 – VII ZR 141/16; Nichtzulassungsbeschwerde zurückgewiesen). Führen solche Lücken dazu, dass dem Bieter wichtige Angaben für seine Kalkulation fehlen, muss er zunächst beim Auftraggeber um Aufklärung bitten. Unterlässt er dies und kalkuliert er mit der für ihn günstigsten Ausführungsvariante, wirkt sich das nachteilig für ihn aus: Ihm steht dann kein Anspruch auf Mehrvergütung zu, wenn es während der Ausführung zu entsprechenden Leistungsänderungen kommt.
Keine grenzenlose Spekulation
Abschließend ist noch ein aktuelles Urteil des BGH zu erwähnen (BGH, Urteil vom 19.06.2018 – X ZR 100/16). Demnach darf ein Bieter zwar Fehler im LV ausnutzen. Die Richter geben dafür aber Grenzen vor:
„Ein Angebot, das spekulativ so ausgestaltet ist, dass dem Auftraggeber bei Eintritt bestimmter, zumindest nicht gänzlich fernliegender Umstände erhebliche Übervorteilungen drohen, ist nicht zuschlagsfähig.“
Ein Bieter verletze seine Rücksichtnahmepflichten, wenn er für eine Position, bei der später erhebliche Mehrmengen anfallen können, einen Preis ansetzt, der extrem überhöhte Nachforderungen nach sich ziehen kann. Ein solches Angebot sei dem Auftraggeber nicht zumutbar und daher vergaberechtswidrig. Wie so oft, kommt es auch hier wieder auf die Bewertung des konkreten Einzelfalls an.